Von Dietrich Heyde
Orpheus (1962)
Wie ein großer, ferner und schöner Gesang steht er da seit seiner Ankunft, mich zu erinnern, mich nur immer an das Eine zu erinnern, dass allein die Liebe stark ist wie der Tod und die Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich, wie es im Hohelied heißt und von Orpheus schmerzhaft durchlitten wird. Die Formensprache von Martin Mayers Orpheus besticht und verzaubert. Sie hat etwas von einer zeitlosen Melodie, die erzählt, wie Schönheit und Tugend, Sehnsucht und Hingabe noch eine Einheit waren und so fern ab von aller Trivialität. Denn da ist keine Stelle an diesem Orpheus, die mich nicht ansieht; keine Bewegung, die nicht zum Spiegel der menschlichen Seele wird. Aber was sollen die vielen Worte?! Ich möchte nur einmal mehr und nun am Beispiel des Orpheus sagen, wie schön und geradezu gewaltig einfach und darum überzeugend die Formensprache von Martin Mayer ist und auf uns wirkt.
David spielt vor Saul (1979)
Die Saiten seiner Harfe, deren Klang und Melodie uns trösten und stärken, sooft wir darauf sehen, sind die Formen, die Martin Mayer dem singenden und vor Saul aufspielenden David gegeben hat. Seine Gestalt ist für mich beides – von großer erotischer Ausstrahlung und Kraft, der niemand und nichts auf dieser Erde widerstehen kann, und (dabei) von einer Reinheit und Unschuld, die so weiß ist wie der Schnee auf den Zedern des Libanon.
Als David zum ersten Mal vor Samuel, den Propheten, tritt, der den Hirtenjungen zum Nachfolger Sauls "salben" soll, wird er so beschrieben: "Er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt." (1. Samuel 16,12) "Von guter Gestalt" meint nicht nur "wohlansehnlich" (wie Buber übersetzt), sondern zugleich (im Sinne des Bildungsideals im alten Israel) "tugendhaft". Dies spiegelt sich, meine ich, in der Form, die Martin Mayer dem jungen David gegeben hat, der so voll Hingabe ist und sich dem Ohr des alten Königs in dem tiefen Wissen zuneigt, dass Musik wohl fähig ist, die bösen Geister zu vertreiben.
Ist der junge David schon hinreißend gelungen, so noch mehr der alte König. Die Sprache seiner Gestaltung bewegt zutiefst. Ganz nach innen gekehrt, hört er wohl, aber sieht den Jüngling nicht. Wie strahlt doch der traurige König mit der Königskrone und in sitzender Pose Würde aus! Er ist ganz im Sinne der griechischen Tragödie eine wahrhaft tragische Gestalt. Die menschliche Seite dessen, dass Gott ihn verworfen und David erwählt hat, spiegelt sich in seinem Antlitz. Fast will mir scheinen, Martin Mayer habe seine innerste Sympathie diesem alten, "verworfenen" König gegeben. Von ihm sind Herztöne in seine Gestaltung geflossen.
Martin Mayer hat aber nicht nur dem Augenblick von Verwerfung und Erwählung ein zeitloses Antlitz gegeben. Er hat auch dem Thema "Alter und Jugend" ein Gesicht gegeben. Wohnt nicht auch dem Alter ein Hauch von "Verwerfung" inne und dem Jungsein ein Hauch von "Erwählung"? Auch wenn wir wissen, dass zum Menschen alle Jahreszeiten gehören! So wie David und Saul einander zugeordnet sind, hat Martin Mayer auch dies thematisiert, wie schwer und leidvoll es ist (sein kann), der Vergänglichkeit unterworfen zu sein und dass wir Menschen darum des Trostes bedürfen, vor allem im Alter. Es braucht eben in jedem Menschen einen David, der uns singt und aufspielt, der uns Mut macht, in jeder Altersstufe das zu entdecken, was wir vermögen (in der Begrenztheit) und der uns ins Ohr flüstert, was uns in jedem Lebensalter zu verwirklichen, aufgegeben ist.
Luther (1983)
Eine in jeder Beziehung eindrückliche, Respekt und Achtung gebietende Gestalt ist die Martin Luther-Statue von Martin Mayer, dem man die Bereitschaft, Kaiser und Papst zu widerstehen, abnimmt und dabei doch zutiefst demütig bleibt und dasteht nicht im Vertrauen auf die eigene Kraft, sondern auf Gottes "dynamis", die sich in seinem Wort offenbart. Schön zeigt er es den Leuten, die an ihm vorübergehen, was sie von der Kirche erwarten dürfen und sollen, dass sie ihnen das Wort zeige, dem im Leben und im Sterben zu vertrauen wirklich lohnt. Das war und das ist Luther, und dies in künstlerische Form gegossen zu haben, daran Menschen zu erinnern im "Denk-Mal", das ist das Verdienst von Martin Mayer. Da sage noch jemand, man müsse erst Theologie studieren, um das Wortgemäße zu wissen und zu gestalten. Er hat's so gewusst; wohl gerade darum, weil er vom anderen nicht (viel) wusste, hat Martin Mayer es besser gewusst als wir Theologen.
Bukolika (1984)
Die Bukolika von Martin Mayer ist wundervoll stimmig und formvollendet. Sie sitzt auf der Erde und ruht ganz in sich selbst. Doch so, als wäre sie nicht von der Erde und sich selbst ganz entrückt. Formgebung, Haltung, Ausdruck der Figur haben diese Gegensätze "aufgehoben" (im doppelten Wortsinn). Alles an der Bukolika schaut nach oben, in die Ferne, nicht nur die Augen, auch die Glieder. Doch ist ihr Blick geerdet. Wird das nicht deutlich an der fallenden Linie, die, ausgehend von den Händen, die den Kopf so nachhaltig stützen und den Blick himmelwärts dauerhaft erscheinen lassen, über die Arme, die wiederum gestützt auf die Knie, bis zu den Beinen und Füßen reicht, deren Zehenspitzen mit der Erde verbunden sind? Natürlich ist die fallende Linie nicht weniger eine aufsteigende. Was für eine harmonische Bewegung von oben nach unten, von unten nach oben. Vom Kopf bis zu den Zehen ist alles eine Einheit. Kein Teil des menschlichen Körpers stellt sich fremd oder fällt aus dem Ganzen.
Sooft ich die Bukolika betrachte, überkommt mich die Lust, ihrem Blick heraus aus der Stadt mit ihrem Lärm zu folgen. Da schwebt etwas in ihrem Augenblick von Sehnsucht, einer Sehnsucht, die mir herrlich verträumt und selbstvergessen vorkommt, weil sie so ganz im Schauen ruht. Es scheint, als würde die Bukolika weit oben, jenseits der schwerelosen Wolken, sehen, was sie sucht – die Stille und das Schweigen der Hände, das Ruhen jeglicher Tätigkeit. Doch was ihr Blick weit droben in der Ferne zu suchen scheint, das hat sie nicht außen, sondern innen, nicht fern, sondern ganz nah gefunden, tief in ihrer eigenen Seele – die Muße. Woher ich das weiß? Ihr verstecktes Lächeln hat es mir verraten. O dieses wissende Lächeln, das ihre Lippen umspielt – es ist dem Schöpfer und Baumeister der Bukolika ganz phantastisch gelungen.
Die Griechen waren es, die uns die Würde der Muße gezeigt haben. Von ihnen erbten wir die Einsicht, dass die höchste Lebensform ein der Betrachtung gewidmetes Leben ist. Aber diese Achtung der Muße ging bei den Griechen Hand in Hand mit Verachtung für die "banausischen" Beschäftigungen. Vergil erkannte, dass der Ackerbau eine grundlegende Bedingung der Zivilisation ist, und betonte die Würde der körperlichen Arbeit. Als die christlichen Mönchsorden entstanden, geschah es zum ersten Male, dass Kontemplation und körperliche Arbeit zusammenkamen. Beides gehört zusammen. Zur Würde des Menschen gehört die Arbeit ebenso wie die Muße.
Die Bukolika soll uns rastlos tätigen Menschen, die immer keine Zeit haben, wohl daran erinnern, wie wichtig die Muße ist. Wer sie recht betrachtet, sich Zeit nimmt und nicht gedankenlos an ihr vorbeirauscht, wird die kraftvolle und heilende Wirkung verspüren, die von ihr ausgeht. Er wird immer neu versuchen, Arbeit und Muße in seinem Alltag zu einem kreativen, heilsamen Ausgleich zu bringen.
Jakobspilger (1989)
Eine Woge von Licht und sommerlichen Temperaturen schlug an dem Oktobertag über mir zusammen, als ich vor Martin Mayers Jakobspilger stand. Da geht er also, durch Muschel und Hut, Stab und Kalebasse gekennzeichnet, der Schutzherr der Pilger und Wallfahrer. Den Dom im Rücken geht er mit leicht gesenktem Kopf, einfachem Gewand und barfüßig merkwürdig unbekümmert an allem vorüber, was groß und mächtig ist in der Welt. Sein Schritt ist konzentriert und entschlossen, sein Ziel ihm in Herz und Sinn geschrieben. Kurzum: Er geht wie einer, der von einer unsichtbaren Mitte getragen wird – etwas Besseres weiß auf dieser Welt.
Die Plastik hat einen idealen Aufstellungsort gefunden. Die Leute bleiben vor dem Pilger stehen, halten inne, lassen sich mit ihm photographieren, wobei sie sich munter auf seinen großen Zeh stellen, der vom lauter Auf-ihm-Stehen schon ganz golden geworden ist. Die Aneignung des Figur geschieht auf vielfältige Weise. Mit einigen Vorübergehenden bin ich ins Gespräch gekommen – es sind Besucher aus Manila, Studenten aus Frankreich und Speyrer Mütter, deren Blicke zwischen den Einkäufen auf die ausdrucksstarke Figur fallen. Der Jakobspilger mischt sich unter die Menschen nicht wie ein Fremder, sondern wie ein alter Bekannter und Vertrauter, wie einer, der schon lange mit ihnen auf dem Wege ist. Gleichwohl lässt er sich, wie er da "geht", nicht von den so hastig dahinlaufenden Zeitgenossen vereinnahmen. Er stellt kritische Fragen an die Vorübergehenden. Danach zum Beispiel, ob wir nicht unser Lebensgepäck leichter machen sollten, damit unser Weg länger wird, oder danach, was es um das Ziel, die Perspektive im Leben von uns ist.
Ich betrachtete den Jakobspilger und überließ mich meinen Gedanken. Wie lange ich schweigend dasaß, weiß ich nicht. Inzwischen aber hatte sich die Sonne auf die andere Straßenseite geschlagen. Die Häusergiebel warfen lange Schatten, die auf dem Gehweg zu einer eigenwillig geformten Gebirgskette zusammenwuchsen. In diesem Augenblick diffuser Lichtbrechung war mir plötzlich, als höre ich den ihn sagen:
"Schau auf meine Füße! Nur wer die Straße seines Lebens barfuss geht, spürt etwas von ihrer Kraft und ihrem Atem. Nur wenn sein Schritt Erdnähe hat, vermag sich ihm etwas von ihrer Eigenart und ihrem Wesen mitzuteilen. Doch bedenke: Die Straße, die du hier auf dieser Erde gehst, ist nicht das Ziel deines Lebens. Sie ist nur Übergang. Wenn du erkannt hast, dass das Ziel deines Daseins jenseits der Straße dieser Welt liegt, dann gehst und lebst du anders, viel gelassener, leichter und freier. Du wirst dein Herz nicht an die Dinge der Welt verlieren und erfährst dich als Kind der Freiheit. Gebrauche also die Welt wie eine Herberge, aus der du in Kürze ausziehen musst. Du bist unterwegs von Ufer zu Ufer, aus der Zeit in die Ewigkeit."
Erst dann sah ich, wie die Schatten der Häuserzeilen, länger und dunkler geworden, in Nacht übergegangen waren. Mein Blick ging vom Jakobspilger noch einmal zum Dom und vom Dom zurück zum Pilger. Wie gut, dachte ich, dass es diesen Jakobspilger gibt, der die gewaltige Architektur des Doms, die den Besucher ebenso beeindruckt wie einschüchtert und auf Distanz hält, ins Einfache übersetzt, ins Erdnahe und Alltägliche, eben wortwörtlich auf die Straße bringt, dahin, wo die Menschen leben. Er muss da sein, dieser Jakobspilger, in dieser Gestalt, an der sein Wesen wahrnehmbar ist. Er muss da sein, uns zu erinnern. Er muss leben in uns.
Christophorus
Der Christophorus von Martin Mayer ist, um es mit einem Wort zu sagen, ins Sichtbare übersetzte, in Form gegossene Demut. Wobei "Demut" ein Beziehungsbegriff ist, der mit Gott zu tun hat. Sie ist im Unterschied zur Bescheidenheit eine Gabe des Himmels. Eben das macht diese Skulptur deutlich und höchst sinnfällig: Christophorus empfängt die Demut vom göttlichen Kind, das er auf seinen Schultern trägt. Ganz besonders gefällt mir, dass der Christophorus von Martin Mayer nicht fromm daherkommt. Da ist keine religiöse Pose, nichts, was auf eine erhöhte Glaubenstemperatur hinweist. Er ist wie einer von nebenan, einer aus dem Volk. Wenn er anstelle des Kindes einen schweren Sack voll Kohlen zu tragen hätte, dann würde er genau so den Kopf zur Seite neigen und den Blick senken, genaus so wie Martin Mayer ihn gestaltet hat. Das ist großartig. Und genauso verhält es sich mit dem Kind. Es ist kein kleiner Erwachsener (wie bei Brüggemann). Es will nicht religiös belehren (mit einer Weltkugel in der Hand und dem Gestus auf den dreieinigen Gott wie bei Brüggemann). Es ist einfach ein Kind, wie ein Kind eben ist, wenn es getragen wird auf der Schulter eines Vaters zum Beispiel und dabei vielleicht auch Freude empfindet, ja richtig Spaß hat, sich schwer zu machen und mit seinem Beinchen den Kopf des Mannes ungeniert beiseite zu schieben.
Was hier gestaltet wurde, ist ein entmythologisierter Christophorus. Er ist eine (mit Bonhoeffer zu reden) "nichtreligiöse Interpretation" der alten Legende. Im Grunde eine Form, weltlich von Gott zu reden. Im Unterschied zum Kind ist der Mann eine Gewandskulptur. Wie schön beide zu einer Einheit verbunden sind und die Arme von Kind und Mann so fließende Übergänge schaffen. Mir will sogar scheinen, als würden der rechte Arm des Kindes und der linke Arm des Mannes eine Kreisbewegung andeuten. Und alle Bewegung geht vom Kind aus. Was hier Gestalt gefunden hat, ja, was hier ins Sichtbare übersetzt wurde – ist die Geburt der Demut im Menschen, in jedem Menschen, der zum Christophorus, zum Christusträger werden kann. Und die Demut, der wir alle teilhaftig werden können, hat die Gestalt eines Kindes, des Kindes von Bethlehem.
Goldwäscherin (1993)
Die Goldwäscherin von Martin Mayer machte einen in jeder Beziehung konzentrierten Eindruck. Versonnen blickte sie auf die Schale in ihren Händen, aus der das herbstliche Gold der Kastanienblätter längst verweht war. Ihr Rund schien Ruhe gefunden zu haben. Doch irgendetwas war anders. Denn verstummt war alle Kommunikation mit den anderen Skulpturen, die die Goldwäscherin umgeben. Etwas nahm ihre Aufmerksamkeit unablässig in Anspruch. Ihr Blick ließ nicht ab von der Schale, nicht einen Augenblick.
Vergeblich bemühte ich mich, sie abzulenken und in ein Gespräch zu verwickeln. Sie verharrte unbeweglich und blieb stumm. Schließlich folgte ich ihren Augen und sah, dass in der Schale viele tausend Tropfen einen See gebildet hatten, der immer in Bewegung war. Winde zauberten aus den Tropfen immer neue Formen und Figuren hervor, die glitzerten, als hätten sie tausend kleine Sonnen bei sich aufgenommen. Plötzlich jedoch schwiegen die Winde, der kleine See erstarrte und alles Glitzern verschwand. Und in den Wassern des Himmels erschien das Gesicht der Goldwäscherin. Sie sah sich selbst wie in einem Spiegel und schien darüber so entzückt, dass ein zartes Lächeln ihre Lippen umspielte, das aber wieder verschwand, sobald Winde in die Schale fuhren und sich die Wasser bewegten.
Es ist wohl so (frei nach dem Apostel Paulus formuliert), dass wir uns selbst jetzt nur durch einen Spiegel sehen, dann aber, wenn wir erkennen wie wir erkannt sind, von Angesicht zu Angesicht.
Siehe auch:
Dietrich Heyde
Briefgespräche mit dem Bildhauer Martin Mayer
Leupelt, Handewitt, 2019
ISBN 978-3-943582-22-2