Von Franz Roh
Fühlt man sich in die Kunst einer Zeit wirklich ein, so kann man, einen sozusagen geologischen Vertikalschnitt nehmend, meistens drei Stilschichten unterscheiden: eine gleichsam zuunterst liegende konservative, darüber eine gemäßigt fluktuierende und schließlich eine ausgesprochene experimentierende, avantgardistische Zone.
Der übliche Streit zwischen ihnen (ein Ewigkeitsphänomen) ist müßig, weil diese verschiedenen Schichten nun einmal existieren, jede später wieder aktuell zu werden vermag, und weil sie sofort auf entsprechende Schichten der Empfänger, des Publikums, stoßen, unter welchen jeweils soziologischen Bedingungen dies auch lebe. Sind doch auf allen Stufen die verschiedensten Qualitätsgrade möglich, die allein längere Geltungsdauer verbürgen.
Man sollte nicht, wie dies im 19. Jahrhundert beliebt war, den Hauptwert darauf legen, daß sich das Werk in die „bewährte Überlieferung" einbettet, aber auch nicht, wie das heute üblich ist, die Hauptbedeutung im sogenannten, seinerseits doch schnell veraltenden „innovationswert" sehen.
Der seit Jahren in München lebende, junge Bildhauer Martin Mayer gehört der konservativen Stufe an. Keinesfalls will er in seinen Gebilden vom menschlichen Körper absehen und etwa das Material in anderen, selbstzweckartigen Strukturen zum Sprechen bringen, sei es statisch oder „mobil". Er möchte aber auch nicht als Naturalist betrachtet werden, der im Körper etwa die bewegte Muskulatur oder den Hautreiz herausarbeitet, wie sich das inmitten der sonst so kühnen Freiheiten eines Rodin findet. Eher könnte man ihn an Malliol anschließen. Insofern dieser den Menschenleib als ausrundende, spezifisch plastische Masse nimmt.
Wie es für viele Künstler ein Thema gibt, das sie ihr ganzes Leben lang immer wieder variieren, ohne deshalb jemals eintönig zu werden, wie zum Beispiel für den Bildhauer Marini Roß und Reiter, oder wie für den Maler Morandi Vasen und Töpfe, so ist es für Martin Mayer der Frauenkörper, in dem er seine Emotionen auslebt. Seine Frauen sind vegetative Geschöpfe, die sich selbst zu genügen scheinen. Ihre Glieder sind in ruhendem Gleichgewicht, in das der geringe Bewegungsansatz eingeht. Trotz ihrer raumverdrängenden Fülle haben sie einen geheimen Liebreiz, trotz ihrer Sinnlichkeit sind sie zugleich verhalten. Ablauf und Spannungen der Wölbungen und Flachen sind so einleuchtend, daß auch das abstrahierende Auge immer wieder befriedigt wird.
Dieser junge Bildhauer hält sich zwischen „Einfühlung und Abstraktion" (um Worringers Polarität zu gedenken). Martin Mayer war ein Lieblingsschüler von Theodor Georgii, dem Schwiegersohn Hildebrands. Doch meidet er die reliefmäßige Ausrichtung, die Hildebrand, mit seiner „Theorie vom optimalen Standpunkt" des Betrachters, auch der Freifigur zuleiten wollte.
Franz Roh
Martin Mayer
Druckhaus Nürnberg, 1965