Von Hartwig Garnerus
Konservative Aktplastiken von Martin Mayer
Gäa, bei den Griechen Göttin der Erde, hervorgegangen aus dem Chaos, Mutter des Uranus, von diesem Mutter der Titanen, Giganten und Erynnien; Allmutter im Kultus, Erzeugerin alles Lebens und Wachsen (Anm. 1): Als vergangenen oder künftigen Urtypus einer Gäa haben verschiedene Autoren die weiblichen Akte von Martin Mayer direkt oder umschreibens charakterisiert, auch als "vegetative Geschöpfe, für sich selbst zu genügen scheinen." (Franz Roh, Anm. 2) Fast alle Interpretationen – Beschreibungen haben die Plastiken merkwürdigerweise weniger gefunden – scheint es zur Schwierigkeit geworden zu sein, das wirklich vorhandene Ausdrucksspektrum, das sich von ursprünglich und erdhaft zu einer mediterranen Sinnhaftigkeit weitet, aber auch recht gegenwärtige Menschenbilder, Haltungen und Gebärden mit einschließt, an der dem Plastiker eigenen Formensprache und eigenen Ausdruckskraft zu verdeutlichen.
Ein konservativer Bildhauer – über das Problem des Konservativen wird weiter unten zu handeln sein – ist Martin Mayer gewiss, ebenso wie er sich zurecht als ein heutiger, als ein zeitgenössischer Plastiker begreift. Zwei seiner neueren Arbeiten, die Kniende von 1975 und insbesondere die Schwimmerin Martin Mayer: Schwimmerin. 1977, Bronze, H 205 cm. von 1977 als Auftragsarbeit, belegen dies. Letztere in ihrer Typisierung und Schwimmkleidung wie in ihrem Aufsetzen der Schwimmkappe, also in ihrer situationsbedingten Bewegung durchaus "gegenwärtiger" als die in sich gerundete, geschlossene, in sich versunkene Kniende. Beide Frauengestalten sind von einer Fülle und Massigkeit, die bei aller physischen Schwere ohne Plumpheit ist und mehr Augenlust gebietet als grüblerischer Hintersinn. Dazu fällt mir eine Romangestalt von Louis-Ferdinand Céline ein. Sätze einer respektheischenden Verherrlichung der gewaltigen Frau des Ziselieres Gorloge: "Sie war eine kräftige Natur... ein ehemaliges Modell... Angeblich hatte sie Schenkel wie Denkmäler, gewaltige Säulen... Sie war sehr wohlbleibt, prachtvolle Rundungen. Niemals hätte man sich einen so gewaltigen Arsch vorstellen können, gespannt, muskulös, gut gespalten, trotz ihrer gewaltigen Hinterbacken ist sie behend wie eine Katze." (Anm. 3)
Natürlich sind Mayers Aktplastiken weder erzählerisch noch anekdotisch gemeint. Wenn manche ihrer Titel wie Purzelnde einen konventionell genrehaften Beigeschmack haben, dann wohl weniger, um etwas niedliches auszudrücken oder darzustellen. Dazu sind die Plastiken zu monumental, als um eine offenkundig lustbetonte Körperlichkeit sprachlich zu kaschieren oder abzuschwächen. Man wird sich, von welcher Seite auch man sich einer konservativ-naturalistischen Aktplastik anzunähern versucht, immer mit den Begriffspaar konservativ/konventionell zu befassen haben: Ein Urteil über Eigenständigkeit und künstlerischen Anspruch, sofern dieser über Kunstgewerbliches hinausgeht und nicht allein handwerkliches Können zur Voraussetzung hat, lässt sich am ehesten aus jener unakademischen Tradition gewinnen, die jeweils trotz allen Mangels an "Erfindungen" das rein Akademische hinter sich gelassen hat.
Es käme wohl niemand auf die Idee, obige Zitat nach Céline auch nur zu annähernden Charakterisierung den Frauenakten von Aristide Maillol an die Seite stellen zu wollen, die bei genauerem Vergleich weniger vorbildhaft sind, als einem ein erster Gedanke dies eingeben möchte. Die Verwandtschaft mit Maillos Plastiken, wenn man dessen Leda (um 1902) zum begünstigen Vergleich heranzieht, ist einer ähnlichen, wenn auch bei Maillol stärker kontrapostischen Geschlossenheit und Fülle zu danken, der Vereinfachung der Formen (die bei Maillol von den ursprünglichen Akten Gaugins angeregt worden sein soll), einer schlichten Zuständigkeit. Wenn bei Plasitken Maillos weder der Bau des Knochengerüstes noch der Verlauf einzelner Muskeln direkt abzulesen sind, so entspringt die sowohl einem stilistischen Wollen als auch der Modellwahl und die wiederum dem Geschmack und Temperament des Bildhauers. Maillos klassizistischere Durchbildung der Figur, ihre eleganten Formen, ein unaufdringliches Pathos der Verinnerlichung, trennt von den Arbeiten Mayers.
Mayers mit stupender Sicherheit vor einem Aktmodell modellierte Plastiken scheinen, insbesondere in der Physiognomie, von einem modellgebundenen Versimus zugunsten einer Typisierung abzurücken, zu vereinfachen, und so einerseits zu einem bestimmten, mit Céline beschriebenen Typus einer Frau hinzuleiten, wie wir sie – gewandet – in der Nachbarschaft oder auf der Straße gelegentlich anzutreffen meinen, andererseits so enttypisiert, das heißt aus dem Portraithaften in einen scheinbar allgemeingültigen Gesichtsausdruck umgewandelt, daß sich dem Betrachter der Eindruck eines unbewußt ernsten Ur-Seins aufdrängen kann.
Weniger die stille Gegenständlichkeit als ihr mit der temperamentvollen Fülle und lebensfrohen Gebärde verbundener Witz und Geist erinnern entfernt an die problemfreie Lebenslust der drallen bunten Figuren der Niki de Saint Phalle – ohne jedoch deren poppige, überpointierte Komik anzustreben. Auch könnte man in der Ungebrochenheit der Akte eine gewisse Verwandtschaft zu Fernando Boteros dickleibiger Eve sehen, die aber von einer distanzierten, verfremdeten Sinnlichkeit ist. Die größere, geglättete Leibesfülle von Boteros Figuren ist vereinfachender und "blutleerer" geformt, wirkt dadurch weniger monumental, weniger plastisch. Hingegen ist Monumentalität, unabhängig von der jeweiligen Größe, eine der bestimmenden Eigenschaften der Akte von Martin Mayer.
Vielleicht führt nach Maillol, Niki de Saint Phalle und Fernando Botero ein Vergleich mit Arbeiten von Gerhard Marcks direkter an das Konservative wie Eigenständige der Arbeiten Mayers. Der Hinweis auf Marcks ist nicht allein deshalb nützlich, weil der um mehr als 40 Jahre ältere Gerhard Marcks dem Jüngeren in Briefen Bewunderung gezollt hat: "Ihren Plastiken eignet eine südländische Vollkommenheit, in der die Sinnlichkeit schönste adäquate Form gefunden hat" (1967) und "Gewiss, Sie sind ein Meister vom Fach. Was Sie ausdrücken wollen, ist auf dem geraden Weg erreicht: eine lebendige kräftige Auffassung und eine klare Formensprache. Dazu ein sauberes Handwerk, das einem heute als Schwäche angerechnet wird, aber sub specie aeternitatis ist Kunst nicht vom ernsthaften Handwerk zu trennen..." (1970, Anm. 4) Stellen wir Gerhard Marcks Eva von 1944–1946 Martin Mayers Schwimmerin (1977) an die Seite, so erweist sich der zeitlich mehr als 40 Jahre näher gerückte Vergleich (im Verhältnis zu Maillos Leda) als immer noch um 30 Jahre zurückliegend.
Die Kontinuität einer konservativen Aktplastik ist über den Zeitraum von fast einem Jahrhundert moderner, alles Akademische hinter sich lassender Kunstentwicklung ein erstaunliches Phänomen. Gewiss wäre es abwegig, die Schwimmerin Gerhard Marcks oder einem früheren akademisch gegenständlich orientierten Bildhauer zuordnen zu wollen. Marcks Eva wie Mayers Schwimmerin sind ungefähr lebensgroß. Ihr Aufbau ist, lassen wir die unterschiedliche motivbedingt Körperhaltung und die andersartige Struktur außer Betracht, gleich: Leib und Extremitäten sind in großflächigen gespannten Partien zusammengefasst, die Beine sind von ähnlicher Säulenhaftigkeit. Doch hinter einer ähnlichen Tektur der Plastiken sind verschiedene geistige Haltungen deutlich auszumachen. Wie könnte die aufgerichtete Fülle der Schwimmmerin auf leicht gespreizten Beinen schon vom thematischen Vorwurf her so hoheitsvoll, distanzierend und verlockend zugleich dastehen wie eine Eva? Das reizende Verhalten einer Eva steht in jahrhunderter alter Tradition – man denke beispielsweise an die geschnitzte Eva oder Lucrezia von Konrad Meit (um 1525-1530)... während eine Schwimmerin mit eng anliegendem Badeanzug als lebensgroßes bildhauerisches Motiv meines Wissens traditionslos ist. Als einer Gestalt aus einem heutigen Massensport stehen ihr die nahezu archaischen Züge mit dem vetraulichen Lächeln einer Kore (Kore = griech. "Mädchen") erstaunlich gut zu Gesicht. Im Vergleich zu Marcks sind die Köpfe um so viel weicher modelliert, daß die Linienführung der Brauen, des Augenschnitts, des Mundes sich nicht hervordrängen und im Gegenteil ihre Besonderheit erst in ihrer relativen Unausgeprägtheit erlangen. Die Nase wie die gesamte Gesichtsmodellierung sind er flach unklassisch breit, nahezu fliesend modelliert wie manche vorklassische Maske aus Terrakotta. Könnte Marcks Eva gleichermaßen Goethes Gretchen wie eine Helena verkörpern, so bleibt für Martin Mayers Frauengestalten eine allgemeinere und reifere Sinnlichkeit, die wir eher bei Aphrodite (Venus) vermuten möchten. Beschreibend bemerken wir, daß "mediterran" und "klassizistisch" in unserem Fall nicht zur Einheit gelangen können, weil die ausgeprägte Körperfülle wie das Stil- und Ausdrucksmittel der gemugelten Oberfläche (aus der gelegentlich eine eigenartige dumpfe Wirkung resultiert) dem Klassizismus fremd sind.
Andererseits werden uns Sinnlichkeit, Lebensnähe oder Überfülle kaum zu den Begriff des "Barocken" verleiten. Vielmehr scheint sich in diesem Schwellen und in sich ruhenden Verismus etwas eigenständiges abzuzeichnen, das einem persönlichen Schönheitsideal verpflichtet ist, welches wiederum einer erschöpfenden Möglichkeit von monumentaler Plastizität entgegenkommt. Die Frauenakte Mayers haben trotz ihrer majestätischen Leiblichkeit weder Bedrohliches noch Plump-Schweres. Ein Geheimnis dürfte in der Spannung von leidenschaftlicher, angehaltener Bewegung und damit zugleich großen Ruhe und formaler Geschlossenheit liegen.
Die Sinnenfreude blüht ohne Obszönität, die Frau wird ohne Zaudern und falsches Pathos gefeiert. Verständlicherweise findet solche naturalistische, selbstgenügsame, pralle formenquellende Sinnlichkeit ähnliche Sympathien und Antipathien, wenn auch jeweils aus anderen Lagern, wie beispielsweise Rolf Szymansiks expressionistisch-abstrakte Großplastik Die öffentliche Rose, auch sie ein Fest der Frau. Letztere ist als gewaltige, faszinierende wie irritierend Erfindung ungleich schwerer zu begreifen. Daß die gegenständliche wie die ungegenständlich Kunst zur Indoktrination taugt, lehrt uns die Vergangenheit. In den zitierten Sätzen von Gerd Marcks klingt die Resignation dessen an, dessen Werk sich gegen die abstrakte, "moderne" Auffassung zu behaupten hatte. "Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau?" ist weniger meine Trivialisierung von Gertrude Steins "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" als ein Mittel, die Kontinuität der Frauengestalten Martin Mayers zu beschreiben. Der historischen Belastung des naturalistischen Aktes durch die Aktdarstellung der 30er-Jahre, schon zuvor und auch pseudoliterarisch vorbereitet, wird sich jeder naturalistische Akt aus unserer heutigen Zeit zu stellen haben, so lange mehr als eine Erinnerung an jene Zeit lebendig ist. 1926 konnte man in einem "Kultur-Album", einer ausgerechnet in Berlin erscheinenden Zeitschrift für Aktfotografieren, über die "Frau in edler Nacktheit" folgende heuchlerischen Verse lesen:
"... Zum Segen der Erde
Die ewige Zukunft kündend. –
Du spendest Frauenzauber
Aus deinem reichen vollen Lebensquell
Damit, wenn Zweifel an der Erde wuchern
Der Menschenglaube neu an dir gesunde!"
Nach solcher erd-qualligen Phrasenmythologie empfinde ich den Eros und die Körperhaftigkeit der Akte Martin Mayers als einen der befreienden Wege, die der konservativen Aktplastik verblieben sind. Eingangs beschrieb ich Gäa als Erzeugering alles Lebens und Wachsens. Ich halte die lebensnahe Sprache Célines, selbst wenn ihr die Aura des Geheimnisvollen fehlt, für richtiger als vegetatives Gemurmel.
Anmerkungen
1) Nach einem Lexikontext von 1904
2, 4) Zitiert nach Hans Konrad Roethel
3) Louis Ferdinand Céline, Mort à Crédit, Paris, 1936
Quelle:
Die Kunst + Das schöne Heim
93. Jahrgang, Heft 3, März 1981
Seite 157-160