Von Margarethe Krieger
In einer künstlerisch polyvalenten Epoche wie der heutigen stellt der Plastiker Martin Mayer ein Phänomen der Individualität dar: Individualität als sich äußernde schöpferische Kraft bedeutet für ihn aber nicht Bruch mit der Tradition. Seine Haltung indes ist nicht die eines eklektischen Traditionalisten, der überliefertes Formengut additiv in seiner Arbeit verwendet.
Wenn Martin Mayer sich selbst verbal und kreativ zur Tradition bekennt, so in dem Sinne, dass er sich selbst als natürliches Glied innerhalb einer künstlerisch wirkenden Entwicklungskette versteht, die nicht durch gestalterische Vorläufigkeiten unterbrochen werden kann. Wäre er deshalb konservativ zu nennen? Sicher ist er bis zu einem gewissen Grade Bewahrer des Vorgefundenen, des bereits Erfahrenen. Mit zunehmender Reife jedoch beginnt der Vorgang der Modifizierung, des Neuaufbaus, auch auf Stufen des vor ihm Erkannten – ein Prozess demnach, der ihn als Individualisten bestätigt. Das will heißen: ein beachtenswerter Plastiker wurde aus jenem anfänglichen Erben etwa Maillolscher Prägung, ein schöpferischer Grafiker zugleich, ein Realist, doch nicht im üblich-strapazierten Sinne: Die Natur ist geistiger Ursprung der Kunst Martin Mayers, sie ist Ereignis, immer Anreger und insgesamt faszinierendes Gegenüber. Sie wird zum Partner. Wer von ihm gewählte Bekenntnisse zur großen Tradition liest, Maximen fast, versteht, weshalb ihm Natur nicht nur in ihrer Kreatürlichkeit begegnet, sondern ebenso intensiv in ihrem geistigen Wert. Auf diese Weise überwindet Martin Mayer das pur Sinnenhafte der Natur und gelangt zu formalen Prinzipien jenseits des Kreatürlichen. Nicht die Natur also wird für den Künstler zum eigentlichen Ausgangspunkt, sondern der ihr immanente, vom Plastiker erkannte und durch Abstrahieren sichtbar zu machende Idee.
Zentrum seiner Arbeit ist die Frau.
Die Frau als visionär erfasste Individualität und – die Frau als animalisches Zeichen, als Chiffre, als selbstständig geschlossener Form –, ja fast Ornament-Zusammenhang, der jenseits und über die Existenz des Individuellen hinausragt.
"Interesse für das Nackte bedeutet Interesse für die Form, die absolutes Leben zum Ausdruck bringt, folglich die essentielle Angelegenheit der Plastik für alle Zeit", zitiert Martin Mayer erklärend ein Wort Adolf Hildebrands. Sein Weg allerdings führt ihn – gedanklich präzise vorgezeichnet – weiter. Er nämlich trifft innerhalb des Bereiches gegenständlicher Plastik der Gegenwart auf sein Problem: der menschlichen Figur durch Nutzen ihrer funktionellen Möglichkeit eine neue Ansicht zu geben und den Menschen innerhalb dieser oder durch diese Möglichkeit reines, formal freies Gebilde werden zu lassen, ohne ihn dadurch seiner Lebensintensität zu berauben. Die Berührung mit einem Wort Lehmbrucks wird sinnfällig: "Ein jedes Kunstwerk muss etwas von den ersten Schöpfungstagen haben, von Erdgeruch…"
Martin Mayers Frauenakte beweisen, wie stark, wie streng auch er sich verselbstständigt hat. Er kennt die Gesetze des Traditionsgutes, das den Begriff Abstraktion miteinschließt; der Abstraktionsvorgang gefährdet jedoch nie das Naturhafte seiner Kunst durch ein Prinzip individuell-freien Umgestaltens. Martin Mayer hat in zwei Schaffensjahrzehnten wichtige Erkenntnisse für sich im Werk realisieren können: er weiß zu verzichten und zu betonen, zu konzentrieren, neu zu ordnen – das will in seinem speziellen, etwas komplex gelagerten Fall heißen, dass er imstande ist, Neues zu "erfinden". Dieses Erfinden hat hier ursprünglichen Charakter. Symbolhaftes erscheint ganz selten, eigentlich nie. Formaler Spannungsablauf, Verhältnis von Wölbung zu Fläche, von Höhe zu Tiefe bestimmen zuerst diese schweren, sich selber genügenden Frauenkörper, deren Kreatürlichkeit sich nur angeblich auf das Naturvorbild bezieht. Es ist – man sollte es nicht leugnen – neben dem Blick des abstrahierenden Analytikers Martin Mayer der seltsam zärtliche Blick des Künstlers, der diese Körper umfasst und zu einer beinahe mediterranen, aus sich heraus schönen, sommerlich-reifen Sinnlichkeit steigert.
Der Weg von Anfängen des Zwanzigjährigen bis zum gegenwärtigen Oeuvre des Vierzigjährigen hat sich konsequent vollzogen. Leichtigkeit mag man vermissen. Sie entspräche nicht dem Wesen Martin Mayers. Was er in die Waagschale wirft, ist Wissen, ja umgesetzter Glaube an die Geschöpflichkeit des Menschen, die er als große, sinnerfüllte Einheit gestaltet.
Der Grafiker in ihm wirkt wie ein vom Plastiker unabhängig Schaffender. Seine Kohlezeichnungen wollen niemals Vorstudien zum plastischen Werk sein: wichtige, fast barocke Blätter, kraftvoll bis ins letzte Detail, formal geschlossen bis zur Chiffrierung, die einen wesentlichen Faktor der Plastiken darstellt. Wie differenziert in der Faszination durch die Lichtgebung daneben die Radierungen! Wie aber wäre jene Seite des Künstlers zu fixieren: er als bewusster Porträtist? Merkwürdiger Dualismus in einem Menschen! Das Bildnis als Widerspiegelung ausgeprägter Individualität stand in eigenartig intensiver Vollkommenheit bereits am Anfang des plastischen Gesamtwerkes. Der Ausdruck des fremden, von ihm distanzierten Gegenübers zog Martin Mayer schon während seiner Studienzeit an – schwerste Aufgabe wohl bei der Realisierung für einen in Freiheit zu arbeiten gewohnten Künstlers. Hier aber zeigt sich die geistige und schöpferische Disziplin: im Erfassen des einzelnen und im Transformieren des Individuellen zur künstlerisch wertbaren Gestaltung. Können, Fleiß, Aufmerksamkeit und Beherrschung genügen nicht, um sich dem Menschen so zu nähern, ihn so zu erfassen, wie es Martin Mayer gelingt: Es ist und bleibt hier ein Unwägbares mit im Spiel – sei es Intuition, sei es das Streifen der Grenze des Genie-Begriffs oder ganz einfach das schöpferische Glück, das diesen Künstler von anderen unterscheidet.
Margarethe Krieger
Martin Mayer
Karl Graf Verlag, Speyer, 1974