Martin Mayer
Von Hans Konrad Roethel
Das Hauptthema von Martin Mayers Arbeit als Bildhauer und Graphiker ist der weibliche Akt. Mit naiver Fraglosigkeit und besessen von einer unersättlichen Neugierde geht er immer wieder an die gleiche Aufgabe heran. Seine Bildnisköpfe und Tierplastiken spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
So selbstverständlich es uns heute erscheinen mag, daß der unbekleidete Körper des Menschen zum Gegenstand der bildenden Kunst geworden ist, so nützlich ist es doch, daran zu erinnern, daß es erst die Griechen des fünften Jahrhunderts waren, die den weiblichen Akt als eine ideale Summe fraulicher Formen ins Leben gerufen haben. Der Kouros ist früheren Datums, und Aphrodite war in den vorhergehenden Jahrhunderten stets bekleidet. Der weibliche Akt der Griechen war alles andere als eine nachahmende Abbildung der Natur. Er war eine Abstraktion weiblicher Schönheit und entstand durch die Addition einzelner Glieder von verschiedenen Modellen. Über das Zustandekommen dieser Art von Synthese gibt es das berühmte, von Xenophon überlieferte Gespräch zwischen Sokrates und dem Maler Parrhasios: "Wenn ihr die schönen Gestalten nachbilden wollt, dann fügt ihr, da es nicht leicht ist, einen Menschen zu finden, an dem alles untadelig ist, von Vielen das zusammen, was an Jedem das Schönste ist. So erreicht Ihr, daß die Körper vollkommen erscheinen."
Dieses daraus entstandene Gebilde war nicht nur ein neues Thema der bildenden Kunst, sondern es stellte eine bis dahin nicht existierende neue Kunstgattung dar. Die Venus von Möllendorf oder die weiblichen Idole der Zykiaden – von verwandten Prägungen Vorderasiens und anderer Kulturbereiche nicht zu reden – sind Ausformungen eines vorgriechischen, in verschiedenen religiösen Vorstellungen wurzelnden Fruchtbarkeitskults.
Übernommen von den Römern, später aus dem Darstellungsbereich der mittelalterlichen Kunst weitgehend verbannt, wurde die Darstellung des weiblichen Körpers während der Renaissance "wiedergeboren" und hat auch für den heutigen Bildhauer nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Für das zwanzigste Jahrhundert stellt Auguste Rodin die Schlüsse!figur dar.
Als Enkelschüler Adolf von Hildebrands – Martin Mayer war Schüler und Gehilfe von dessen Schwiegersohn Theodor Georgii – steht er auf gesichertem Boden. Im Gegensatz aber zur akademischen Tradition interessiert er sich nicht für die Anatomie im Sinne einer Zergliederungskunde, sondern, indem er sich von seiner Kenntnis der Anatomie befreit, formt er neue organische Gebilde, die den weiblichen Körper zum Gegenstand haben. Mit anderen Worten: die Beherrschung des anatomischen Aufbaus ist Voraussetzung für seine Figuren, als solche aber für das Ergebnis seiner künstlerischen Bemühungen so gut wie irrelevant. Bei seinen Zeichnungen ebenso wie bei einen Plastiken ist es die Erscheinung des Modells in seiner bewegungsmäßigen Ganzheit, die ihn fesselt, nicht die reflektierende Analyse des Motivs. So sehr er also vom Thema her auch einer alten Tradition der Bildhauerei verbunden ist, so ist doch die Art seiner Modellierung vollkommen unorthodox.
Den gerundeten weiblichen Körperformen, vor allem dem Gesäß, den Brüsten und den Schenkeln, gilt seine ganze Aufmerksamkeit. Er ist geradezu vernarrt in ihre Prallheit. Aus dieser verführerischen Vorliebe erwächst die Möglichkeit, daß die Üppigkeit der Formen die Vorstellung von Sexualität heraufbeschwört. Das ist nicht der Fall, weil seine Geschöpfe bei aller Fleischlichkeit überraschenderweise durch ihre Unbefangenheit im Zustand kindlicher Unschuld verbleiben. Selbst die exponierteste Zurschaustellung eines weiblichen Hinterteils erweckt durch ihre Drastik eher den Eindruck des Grotesken als den des Obszönen. Es ist die Masse als solche, die zu schwellenden Volumen geformt wird; es ist nicht die Struktur oder Spannung der Haut, nicht ihre Oberflächenwirkung, ihre Geschmeidigkeit oder ihr Glanz. Das Materielle ist weitgehend abstrahiert. Haare können schwellenlos in die Wölbung des Rückens übergehen. Bei seinen Figuren ist eine homogene Umsetzung der verschiedenen Substanzen wie Haar, Haut oder Tuch ins Bildhauerische vollzogen. Trotzdem erliegt er nicht der Gefahr einer kurzschlußartigen "Stilisierung". Eine vor etwa zehn Jahren bemerkbare Tendenz, die runden und rundlichen Formen des weiblichen Körpers dergestalt zu brechen, daß sie sich stereometrischcn Gebilden annäherten, wurde bald wieder aufgegeben.
Die Unbefangenheit seines Talents und das Unakademische seiner Arbeiten finden einen Widerklang im Ausdruck seiner Akte. Ihre Eigenart ist nicht leicht zu bestimmen. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß die Griechen den weiblichen Akt nicht nur als ikonographischen Typus geschaffen, sondern daß sie auch in der Bedeutungszone bereits das Wesentliche definiert haben. Im Gastmahl spricht Platon von zwei Aphroditen, der himmlischen und der gemeinen. Zwischen diesen Polen bewegt sich der Ausdruck der weiblichen Akte Martin Mayers. Man hat in ihnen – nicht zu Unrecht – eine mittelmeerische Note zu erkennen geglaubt. Dazu hat vielleicht eine gewisse Vergleichbarkeit mit Maillol und Renoir geführt; doch sind bei genauerer Betrachtung die Unterschiede wohl schwerwiegender als die Ähnlichkeiten. Ausdrucksmäßig sind sie zweifellos Im Norden beheimatet. Sie sind halberwachte, kindliche Geschöpfe, die, noch ganz in sich selbst befangen – vom Gedanklichen unberührt –, Lebensbejahung ausstrahlen und denen gleichzeitig bisweilen ein Hauch von Schwermütigkeit anhaftet. Das Rufende und Verlangende, das sie durch Haltung und Blick an den Tag legen, ähnelt den Spielen jener "enfants terribles", die, unschuldig und verführerisch zugleich, die Sinne verwirren. Etwas Koboldhaftes und Alraunisches drückt sich häufig in ihrem ebenso sorglosen wie provokatorischen Hingegossensein aus. Bezeichnend ist es, daß seine Hockenden und Liegenden oft des distanzschaffenden Sockels entbehren. Und so wie der Ausdruck seiner Figuren zwischen Sinnlichkeit und Unschuld schwebt, so ambivalent erscheint auch ihre Haltung zwischen der Bewegtheit des Momentanen und der Festigkeit des Statuarischen.
Hans Konrad Roethel
Martin Mayer
Thiemig Verlag, München, 1972