Martin Mayer – Der Bildhauer als Zeichner
Von Heinz Spielmann
Herkunft und Wahlverwandtschaften eines Künstlers hervorzuheben, kann das Verständnis seines Werks ebenso fördern wie einengen – fördern, weil die bewußte Hinwendung dieses Künstlers zu einer Überlieferung etwas über ihn selbst zu erkennen gibt, einengen, weil Gemeinsamkeiten mit einer Tradition die Erkenntnis des Besonderen und Individuellen leicht trüben oder in den Hintergrund drängen können. Dem Bildhauer Martin Mayer geht es in dieser Hinsicht nicht anders als anderen, die sich einem Erbe verpflichtet sehen, ohne ihre Eigenart aufzugeben. In Berlin geboren, studierte er in München bei Adolf von Hildebrands Schwiegersohn Theodor Georgii und bezog später Hildebrands ehemaliges Atelier. Er hat diese Tradition immer als eine Verpflichtung verstanden, aber er war auf eine unreflektierte Weise immer zu eigenständig, im Schillerschen Sinn immer zu naiv, vielleicht auch zu norddeutsch, um aus den Überlieferungen seiner Wahlverwandtschaft ihn festlegende oder einengende Verbindlichkeiten abzuleiten. Dies erkannte bereits Gerhard Marcks, als er einen Katalog des Sechsunddreißigjährigen in die Hand bekam und, auf eine eigene Begegnung mit Hildebrand verweisend, das Besondere seines jungen Kollegen im Verhältnis zur »Isarluft« aufspürte.
Martin Mayer hat die Bildhauerei immer als eine Kunst der menschlichen Gestalt verstanden, er hat nie Zweifel daran geäußert, daß diese Kunst ihre Gesetze kenne, jedoch hat er nie einen klassischen Kanon als ihre Voraussetzung gesehen – immer das Leben selbst. Er richtete, ohne darüber Worte zu machen, von Beginn an seine Augen unmittelbar auf Lebensäußerungen, auf Haltungen und Gestik im Raum, nie auf die gestellte, abgewogene Pose, auf den lehrhaften Kontrapost oder die in den Proportionen kalkulierte Statuarik.
Wie konsequent und wie unirritierbar dieses Verständnis der Bildhauerei und dieses Selbstverständnis für Martin Mayer lebenslang blieb, belegt der vorliegende Bildband. Er gibt über mehr als fünfzig Jahre seines Werks Rechenschaft, legt zwar den Nachdruck auf die Zeichnung, gibt aber auch Hinweise auf das bildnerische Werk als Regulativ des Zeichnerischen und Graphischen. Diese Zeichnungen haben ohne Zweifel in sich Bestand, aber sie sind dem gleichen Gehalt wie die Figuren verpflichtet: Dem sinnlichen Verständnis des Körpers im Raum und als atmendes Volumen. Oft gehen sie als erster Schritt der Verwirklichung einer plastischen Form voraus, ebenso oft paraphrasieren sie eine bildnerische Idee in zahlreichen Variationen, mehr Möglichkeiten vor Augen stellend, als ein Bildhauer während seines ganzen Lebens in Figuren bewältigen kann. Auf die Vielfalt in der Einheit, die das Werk dieses Bildhauers kennzeichnet, wies bereits Franz Roh hin.
Der Öffentlichkeit sind vermutlich die großen Gewandfiguren Martin Mayers – etwa sein Münchner Franziskus, sein Landauer Luther, sein Jakobspilger in Speyer oder die kraftvolle Aktfigur der »Triumphans« im Münchner Olympiapark besser bekannt als seine Zeichnungen und Statuetten. Man kennt seine Portraits, zum Beispiel die des Abtes Jakobus Pfättisch oder des Philosophen Ernst Bloch. Wer sie allein kennt, vermag die Qualität dieses Bildhauers durchaus einzuschätzen, aber eine angemessene Vorstellung von ihr gewinnt man nur, wenn man die Frauenbilder, Frauenbildnisse und Frauenbildwerke Mayers gesehen hat. Sie stehen im Zentrum seines Lebenswerks. Dieses Hauptthema und Leitmotiv bestimmt seine Kunst seit mehr als fünfzig Jahren ohne jede Ermüdungserscheinung. Was Henry Moore einmal im Gespräch in Hinsicht auf seine »Liegenden Figuren« sagte, gilt auch für Martin Mayers Frauengestalten: Wenn irgendein Diktator ihm sage, er solle sich nur noch diesem einen Thema widmen, würde es ihn nicht irritieren, denn es enthielte mehr an Möglichkeiten, als sich in seinem Leben verwirklichen ließe.
Als der einfühlsame Photograph Herbert List, dem die Lebensnähe der Antike auf das überzeugendste vertraut war, 1965 ein Heft und 1972 einen Bildband über Martin Mayer herausbrachte, machte er bereits damals das Thema der Frauendarstellung zum Mittelpunkt dieser Publikationen, indem er ihm den überwiegenden Teil der Abbildungen widmete. Jetzt, mehr als ein Jahrhundertdrittel später, unternimmt der vorliegende Band das Gleiche auf umfassende Weise. Er zeigt die Frau als das Wesen, ohne das es kein Leben, keine selbstvergessene Sinnlichkeit, keine Vitalität, keinen Anlaß für die Bildhauerei gibt. Er macht sie so gegenwärtig, als würde sie niemand beobachten. Keine dieser Frauen posiert, erst recht nicht als Modell, das einem Schönheitskanon zu entsprechen versucht. Mayers Aktzeichnungen sind keine bloßen Exerzitien, wie sie fast jeder Bildhauer im Training seines Handwerks und als Kontrolle seines Metiers übt, sie müssen als zentraler Teil seines Werks gelten, sie stellen in Hinsicht auf das Gesamtwerk ebenso dessen Quintessenz dar wie die Bronzen.
Die Photographien des Bildhauers, die dem vorliegenden Kompendium seiner Zeichnungen und Bronzen zum Verständnis ihrer Genesis beigegeben sind, haben nichts Inszeniertes, schon gar nicht etwas Voyeurhaftes, denn es gibt scheinbar niemanden, der den Aktmodellen sein Interesse zuwendet, so diskret und frei von Absichten sind sie gesehen. Man vergleiche sie, um sich ihrer Unbefangenheit bewußt zu werden, mit den kalkulierend inszenierten »Nudes« eines anderen Berliners, des Photographen Herbert Newton.
Wie auf den Photographien Martin Mayers erscheinen seine Frauen auch in seinen Zeichnungen. Sie stehen oder sitzen ungezwungen da, bücken oder räkeln sich, hocken, kauern, knieen, wie es ihnen gerade einfällt – ganz animalische Indolenz. Sie schlafen, ziehen sich aus, waschen sich, trocknen sich ab, kämmen sich und zeigen sich dabei unbefangen von allen Seiten als lebende Bildwerke, selbstvergessen jenseits aller Scham und Scheu. Die Zeichnungen, die im Gegenüber dieser sich selbst überlassenen Modelle offenbar jeweils in kurzer Zeit entstanden, verraten ein ungewöhnliches Tempo des Beobachtens, sie halten schnell wechselnde Haltungen fest, bleiben bei aller Schnelligkeit des Strichs aber Notizen eines Bildhauers, das heißt: Bilder von Körpern im Raum. Mit vehementen, die Körper modellierenden Schraffuren heben sich Volumina aus dem Dunklen ab. Raum kann Martin Mayer jedoch auch mit der Kontur fassen, der herausforderndsten Probe für die Beherrschung der Zeichnung als Medium des räumlichen Sehens von Körpern.
Die Chronologie besitzt für Mayers Zeichnungen keine nennenswerte Bedeutung. Dies beobachteten in Hinblick auf seine Bronzen alle Interpreten. Das Thema und die Freiheit des Darstellungsmodus sind auch in den Zeichnungen von Anfang an da. Allenfalls erscheinen einige der Blätter aus den frühen fünfziger Jahren etwas fester, ein wenig kantiger strukturiert – wohl eine Konsequenz daraus, daß Gewandfiguren dargestellt sind. Auch die Körperformen der Akte werden in dieser Zeit durch entschiedenere Begrenzungen hervorgehoben. Von den sechziger Jahren an aber gewinnen sie die sich bis heute erhaltene Freiheit, die bei aller Eindeutigkeit des Gehalts durch eine offene Form gekennzeichnet ist.
Die Ordnung der nachstehenden Tafeln erläutert ohne Kommentar die Zuordnung der Zeichnungen zu Statuen und Statuetten einer jeweils ähnlichen Thematik. Aus den Gegenüberstellungen ist abzulesen, daß und wie die Bronzen die wechselnden Seherfahrungen in die greifbare Form übertragen. Natürlich läßt sich der freie Duktus der Zeichnung nicht direkt in die modellierte Form verwandeln, ihre offene Struktur nicht in das plastische Volumen. Es würde an Entschiedenheit und Klarheit verlieren. Die Bronzen – sowohl die kleineren wie die überlebensgroßen – verwandeln Momente und Anlässe, Zufall und Wechsel in allgemeingültige Resultate. Diese Allgemeingültigkeit bedeutet in der Bildhauerei immer: Form nach Maßgabe einer – wenn auch verborgenen – RaumMathematik, in diesem Fall nicht der euklidischen, sondern der sphärischen Stereometrie mit ihren Wölbungen, Kurven, organischen Verläufen, der Stereometrie organischer Körper und des Wachstums. Werner Haftmann nannte sie »von innen anwachsende Schwellkraft«* der Volumina. Sie folgt nicht der Statik, orientiert sich nicht an Horizontalen und Vertikalen; sie entspricht den verhaltenen Bewegungen von Modellen, die nur einen Moment lang einhalten, weil ein vorübergehender Gleichgewichtszustand erreicht ist, jener fruchtbare Augenblick, den Lessing als das verbindliche Kriterium der Bildhauerei beschrieb. Hildebrand hätte einer solchen Auffassung, die das Erbe des Barock, die Verbindlichkeit von Pathos-Formeln zu erkennen gibt, vermutlich widersprochen, denn ihm galt nicht ein Augenblick im ständigen Wechsel, sondern die ruhige Statuarik des Unveränderlichen als das Ziel der Bildhauerei.
So eng Martin Mayer auch mit München und seiner BildhauerTradition verbunden ist, in Hinsicht auf seine Frauendarstellungen finden sich seine Wahlverwandten auch im Norden. Man denke an die Tänzerinnen Georg Kolbes, an die Fortuna Richard Scheibes, an die vergnügt-sinnlichen Akte von Gustav Seitz. In ihrer Tradition tat Martin Mayer einen Schritt nach vorn, einen ihn als eigenständigen Bildhauer und Zeichner erweisenden großen Schritt, die Tatsache belegend, daß die Kunst der Figuren keineswegs an ihr Ende gelangt ist. Ihre Fortentwicklung und Erneuerung hat allerdings das Lebens-Erlebnis zur Voraussetzung.
Heinz Spielmann
Martin Mayer: Frauen – Bronzen Zeichnungen Fotografien
Edition Braus, Heidelberg, 2002